Bis zu eine halbe Million Menschen ab 60 Jahren sind in der Schweiz jährlich von Gewalt oder Vernachlässigung betroffen. Den Opfern fällt es oft schwer, sich zur Wehr zu setzen. Aus Scham ziehen es viele vor, Missbräuche zu verschweigen. Betreuung und Hilfen zu Hause können eine wichtige Rolle spielen, um Missbrauch zu verhindern.
«Als ich die ersten Male Gewalt zu Hause erlebte, habe ich mich geschämt und mich niemandem anvertraut. Dank der Unterstützung von Pro Senectute hat sich die Situation im Alltag nun entspannt.»
Gewalt und Missbrauch im Alter ist ein Tabuthema, über das gesellschaftlich und medial nur wenig gesprochen wird. Dabei werden gemäss Schätzungen des bundesrätlichen Berichts zur Verhinderung von Gewalt im Alter Jahr für Jahr 300'000 bis 500'000 Personen ab 60 Jahren Opfer von Gewalt oder Vernachlässigung. Wie Gewalt kann auch Vernachlässigung vorsätzliches Verhalten bedingen und sowohl psychisch als auch körperlich erfolgen.
Diese Gewaltform beginnt in der Regel am Anfang einer Beziehung oder Ehe und kann Jahrzehnte andauern. Psychische Gewalt kann sich in Form von Beleidigungen, Demütigungen und Drohungen manifestieren. Täterinnen und Täter kennen die Opfer sehr gut und zielen bewusst auf deren emotionale Schwachstellen ab. Die psychische Gewalt äussert sich in einem zwanghaften Kontrollverhalten der Täterinnen und Täter. Davon sind alle Lebensbereiche der Opfer betroffenen: soziale Kontakte, finanzielle Mittel, Mobilität, Nutzung der Räume in der eigenen Wohnung. Für Opfer ist es schwierig, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Physische Gewalt manifestiert sich in Form von körperlicher Gewalt – dazu zählen Schläge oder Ohrfeigen. Sie geht oft mit übermässigem Alkoholkonsum der Täterinnen und Täter einher. Gewaltausbrüche können im privaten und öffentlichen Raum stattfinden. Opfer sind in ständiger Alarmbereitschaft, um ihre Partnerinnen und Partner nicht zu verärgern. Erst schwere körperliche Gewalttaten führen dazu, dass sich die Opfer ihrer Gewaltsituation bewusst werden.
Sexuelle Gewalt zeigt sich anhand von erzwungenen sexuellen Handlungen und Praktiken. Für ältere Personen kann es besonders schwierig sein, über dieses Tabuthema zu sprechen. Bei älteren Paaren ist das Konzept der «ehelichen Pflicht» immer noch präsent. Deswegen wird sexuelle Gewalt nicht als solche erkannt und bleibt unbemerkt.
Die Forschung weist auf vier zentrale Faktoren hin, die Gewalt und Vernachlässigung im Alter begünstigen können:
Der Übertritt ins Pensionsalter kann Gewaltdynamiken offenbaren oder verstärken. Ältere Generationen schreiben den Männern die Rolle des Ernährers und Familienoberhaupts zu. Männer erleben die Pensionierung oft als Identitäts- und Statusverlust. Stress und finanzielle Unsicherheiten sind die Folge. Zudem verbringen beide Ehepartner viel Zeit zu Hause – das Kontrollverhalten der Täterinnen und Täter sowie die soziale Isolation der Opfer wird zusätzlich verstärkt. Diese Tatsache schränkt die Suche nach Hilfe massiv ein.
Ältere Opfer von Gewalt nehmen auf unterschiedliche Weise Hilfe in Anspruch. Gespräche mit der Familie, Freundinnen und Freunden sowie Nachbarinnen und Nachbaren können Betroffene dazu ermutigen, professionelle Hilfe zu suchen. Auch Gespräche mit Hausärztinnen und Hausärzten oder Psychologinnen und Psychologen können Opfer dazu bringen, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Breit zugängliche Betreuungsangebote haben das Potenzial, kostengünstig eine präventive Wirkung auf Gewalt und Vernachlässigung im Alter zu erzielen.
Der Bericht des Bundesrats gelangt zum Schluss, dass es zur Bekämpfung von Gewalt und Missbrauch im Alter eine Reihe von Massnahmen im Bereich Prävention, Erkennung und Intervention braucht. Diese Massnahmen müssen sich sowohl an die Opfer als auch an deren Angehörige, an Fachpersonen und die breite Öffentlichkeit richten. Den schweizweit tätigen Organisationen der Altershilfe kommt dabei eine zentrale Rolle zu, da sie der älteren Bevölkerung folgende wichtige Betreuungsleistungen anbieten:
Betreuungsangebote und Hilfen zu Hause fördern die soziale Teilhabe und Interaktion sowie den Austausch mit anderen Menschen. Zudem können sie ein Vertrauensverhältnis schaffen, das es geschultem Personal ermöglicht, Anzeichen von Gewalt und Vernachlässigung frühzeitig zu erkennen.
Bewegungs- und Sportangebote fördern die Gesundheit, steigern das Wohlbefinden, mildern körperliche Beschwerden und ermöglichen soziale Kontakte.
Entlastungsangebote für betreuende Angehörige und geschultes Personal ermöglichen es, die Betreuung älterer Menschen temporär an andere Personen abzugeben, um sich erholen zu können. Schulungen können einen besseren Umgang mit den eigenen Ressourcen vermitteln und Schwierigkeiten des Betreuungsalltags aufzeigen, um Überlastung zu verhindern und Entlastung zu erreichen.
Das Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt hat gemeinsam mit Pro Senectute und anderen Anlaufstellen eine schweizweite Präventionskampagne gegen Gewalt im Alter lanciert. Mit dem Appell «Es ist nie zu spät, Hilfe zu holen» beraten wir Betroffene, Angehörige und Beobachtende von schwierigen Situationen.